Follower

Montag, 27. August 2012

Psychiatrisierung unsoldatischen Verhaltens

'Indem man das Recht des Staates über das seiner Angehörigen stellt, ist das Grauen potentiell schon gesetzt.' (Th.W.Adorno). Das Zitat stammt aus dem Buch 'Das Grauen ist vorprogrammiert' von Hans-Ludwig Siemen. Es geht um Psychiatrie in der Zeit zwischen Faschismus und Atomkrieg.

Die Verflechtung von deutscher Heilkunde und Politik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird in seinem Buch thematisiert. Die Bedrohungen, die sich hieraus für den deutschen Soldaten ergaben, sind unfassbar.  

Während des Ersten Weltkriegs war die Zerstörung subjektiver Bedürfnisse jedes kriegsskeptischen Soldaten Ziel. Die Flucht in die Krankheit sollte unattraktiv  werden. Man benutzte Sinusströme zum Willenglätten. Nach Todesfällen gingen die Kriegstherapeuten auf faradische Ströme über. 

Im Zweiten Weltkrieg durften 'psychisch abnorme Massenerkrankungen', wie die Flucht aus dem Kriegsgeschehen, erst gar nicht aufflackern. Soldaten vermieden, einen psychisch lädierten Eindruck zu erwecken, denn eine Verlegung in die Heimatgebiete wurde grundsätzlich verwehrt. Folglich nahmen körperliche Erkrankungen zu.

An den 'therapeutischen' Foltermethoden änderte sich während beider Kriege nicht viel. Fehlendes Kriegsengagement behandelte man in den Kriegsreservelazaretten 'suggestiv', nämlich mit stärkeren galvanischen Strömen (siehe S.143 in Ludwig Siemens Buch). Soweit in Kürze zu diesem Buch.

Aus diesem Wahnsinn gab es kein Entrinnen, auch nicht innerhalb Deutschlands. Floh ein deutscher Soldat aus Hitlers Nähe, dann war das  noch ungelebte Leben vorbei. Der Soldat fand sich im KZ, am Galgen oder in einer der hiesigen psychiatrischen Anstalten auf der geschlossenen Station wieder. Es gab wohl keinen, der das nicht wusste: Man verschwand darin für immer.

Diese Andersdenker 'verstarben' in Kürze. Fielen sie medizinischer Forschung zum Opfer? Von einem Betroffenen, Herrn Karl H., dessen Spur aufgrund seines an einem Waldstück versteckten Fahrrads aufgenommen werden konnte, erreichte die Familie die Nachricht: 'Helft mir, ich werde den nächsten Tag nicht erleben'.


Der Krieg frisst vielfältig seine Kinder

Ein Familienmitglied erzählte mir, dass die Mutter ihren Sohn, Herrn Karl H., in der Nervenklinik am 09.07.1938 nicht mehr lebend angetroffen habe. 
Tapfer habe die Mutter zuvor das Fluchtziel ihres Ältesten verschwiegen, obwohl man ihr das Gewehr an die Stirn gehalten hatte. Sie sei kurze Zeit später, am 13.10.1938 vor Gram gestorben. Das Grab befindet sich im Rosenheimer Friedhof hinter dem Franziskaner-Kloster am Lorettoplatz.    
Der Krieg zerstört mit den Müttern die Zukunft
Ich hoffe, nur einige Ausnahmen befanden sich auch nach dem Krieg weiterhin  - ohne jemals erfolgten  gesetzlichen Unterbringungsbeschluss und ernstzunehmender Diagnose - in diesen psychiatrischen Versuchseinrichtungen. Bei einem Gespräch mit einem Betroffenen, Herrn P., erfuhr ich, dass er bei einem Fluchtversuch als Pilot am Flughafen Berlin festgenommen und am 06.03.1942 in eine Heilanstalt eingeliefert worden war. Eliminiert wurde er während seines Aufenthaltes nicht, weil seine Schwester derartige Vorkommnisse aufzudecken drohte.  Er sei bereits von der  Patientenliste gestrichen worden. Über Jahre versuchte Herr P., Kontakt zur  Außenwelt zu bekommen. Eine winzige Bleistiftmine  hielt er  in den Zahnzwischenräumen versteckt. 

Beim Tüten-Falten - während der Arbeitstherapie - versah er das Papier heimlich mit seinem Namen und Aufenthaltsort. Ein  Fluchtversuch, bei welchem ein junger Mit-Patient ihm den Schlüssel des Pflegers zugesteckt hatte,  wurde frühzeitig bemerkt. Bei der gewaltsamen Festnahme schlug man ihm die Vorderzähne ab. Erstaunlich, dass jetzt erstmals Elektroschocks erfolgten. Auch seine Hungerstreiks zogen Elektroschocks nach sich. Das konnte - obwohl schon  nach Kriegsende - nicht einmal mehr der mit ihm regelmäßig Schach spielende Anstalts-Pfarrer verhindern. 

Endlich aber kontaktierten ihn Studienkollegen und verhalfen ihm über einen richterlichen Beschluss zur Freiheit. Dass er Ich-Stärke und einen starken Willen habe, bescheinigte ihm der nach der Entlassung aufgesuchte Arzt. Kaum jemand hätte das ohne psychische Schäden überstanden.

Ein verspieltes Leben. Kein Wort der Entschuldigung für eine ungesetzliche Unterbringung bis in die Friedenszeiten der 50er-Jahre erfolgte von seiten des Staates, geschweige denn der Achtung für eine aufrichtige Gesinnung.  Ein Schadensersatzbescheid des Bayer. Landesentschädigungsamtes wegen jahrelanger Freiheitsberaubung habe einen peinlichen Geschmack hinterlassen.

Zum Schicksal von Herrn P.  recherchierte ebenfalls W. v. d. Cramer. Er schrieb darüber unter dem Titel 'Die besten Jahre seines Lebens...' in mehreren Folgen im 8 Uhr-Blatt (siehe 8 Uhr-Blatt vom Montag, den 20. August 1956).  

Ähnliche Fälle werden  rege zum Thema 'Zweiter Weltkrieg' getwittert. Ein junger Brite; Alwyn Collynson,  sammelt derartige Beiträge.  Das ersetzt kein Geschichtsbuch, meint er, aber die Auseinandersetzung ist intimer.